30.12.2021
Der Tag ist nicht um, bis der Tag um ist. Jemand zieht sich den Kragen des Mantels hoch, es regnet schräg, auf halb sieben vielleicht. Der Nebel schwebte heut Nacht seidig um alle Kirchtürme. Ich sah direkt in eine andere Zeit hinein. Die Vampire, unscharf am Horizont, drehten ihre lustlosen Runden. Ungläubig oder unter dem Einfluss der Spritze riss ich alle 5 Minuten das Fenster auf; der Himmel wechselte sein Kleid wie die Unterhosen. Der, der den Kragen hochgezogen hatte, ging sehr langsam unter den Laternen entlang. Langsamer als das. Ich hatte mir vorgestellt, er müsste so um die 120 Jahre alt sein. Er wäre als junger Mann durch das Berlin der 20er Jahre spaziert, in einem ähnlichen Anzug, wie der, den er täglich trug, wenn er die letzten Sonnenstrahlen auf der Torstrasse auf sein altes, neugieriges Gesicht scheinen liess. Sicher war er erst Ende 80.
Ich würde ihn so gern mal fotografieren, aber man müsse schon sehr talentiert sein um ihn in Gänze einfangen zu können. Ich beobachte, während ich plötzlich auf der anderen Straßenseite an der Ampel stehe, durch die vorbei fahrende Straßenbahn, wie eine Frau sich zu dem Mann vorbeugt, einen riesigen schwarzgrünen Tuchschal weit in die Höhe schüttelt und ihn dann seelenruhig darunter verbirgt, ihn komplett umhüllt. Er sitzt einfach ganz still da, regungslos lässt er alles geschehen und lächelt, so bilde ich mir ein, durch den Stoff kurz in meine Richtung. Ich drehe mich noch ein paar mal um, die Frau ist verschwunden, er blickt, noch eingewickelt, auf die vorbei ziehenden Reisenden. Als ich um die Ecke biege, legt mir eine Frau in rotem Pelzmantel, schwer parfümiert eine Hand auf die Schulter. „Kindchen, kennen sie das? Wenn sie denken, alle nehmen den Mund zu voll? Diese Hyperironie! Die haben doch alle aufgegeben und sich mit den gesellschaftlichen Missverhältnissen arrangiert! Aaaraaangiiiert!!! Mit dem moralischen Maßband laufe ich seit Jahren durch die Welt und setze an wirklich jeder Fußsohle an. Ich gehe noch daran zu Grunde, Kindchen!“ Sie nimmt ihre Hand von meiner Schulter und stampft davon.
Das könnte ich sein, in ein paar Jahren. Vielleicht war ich mir selbst begegnet. Naja der Mantel und Duft stimmten nicht, aber man konnte ja nichts mehr ausschließen.
Geh jetzt, Jahr;
lass mich fallen.
Zwei Kinder rennen an mir vorbei, sie tragen Plateauschuhe, einen Pullover einer Privatschule in Mitte und schlürfen irgendwas mit Antioxidantien. Im dritten Stock des Hostels öffnet eine Frau das Fenster, schreit „Schöner Ausblick!“ in den Hof und knallt es schnell wieder zu. Ich bleibe an einer Pappkiste stehen, in ihr nur Lebensratgeber in rauen Mengen. Im Café an der Ecke, trinkt jemand einen Kaffee und raucht drei Zigaretten gleichzeitig. „Freiheit, Freiheeeiiit! Ist doch ein streitbareeer Begriff.“ singt er in der Originalmelodie von Marius Müller Westernhagen. Die Müllabfuhr fliegt an mir vorbei, dann drei, dicht gedrängt auf einem Mietroller, dann ist die Stadt auf einen Schlag leer. Nur die Laternen an meiner Seite. Aus einem Haus strömt plötzlich ein Paar. Der eine stürzt sich vielleicht gleich vor ein Auto oder gefährdet alle um ihn herum. Alles schwankt, wackelt, steht still und brennt lichterloh. Er ist des Lebens überdrüssig, schreit in betörender Lautstärke „Nobody is listenin‘! I hate everyone in this fuckin‘ world!“ Sein Freund flüstert vorsichtig auf ihn ein. Noch Stunden später höre ich sie. In meinem Bett im fünften Stock fährt es mir in die Knochen. Einsamkeit ist kein leises Wort.
Nächstes Konzert:
AUS auf dem ADK- Fest
Zukunft am Ostkreuz, Berlin
21.1.2023
Die Forenmitglieder küssen sich jetzt auf die Münder.
Am Fester zieht die Zeit vorbei. Im
Stechnschritt wohlgemerkt.
Der Schattengeist und ich. Wir trafen uns Anfang November letzten Jahres erstmalig auf der Brunnenstraße. Er blieb für ein paar Monate bei mir.
Neue Musik:
Nächste Ausstellung:
"Silent Spring"
28.4-28.5 Schaffhausen
Strawberry Fields Forever, 2023
Liv Billerbeck
Zeichnung Malerei Objekte Text
*Berlin-Ost
spielt in den Bands:
AUS, Die Letzen Ecken, Olaf und Olga,
Die Schiefe Bahn, Schimmel Über Berlin,
Die Sonne.
Betreibt das Kunstprojekt
Soon Billo Bücher
2.12.2021
Heut träume ich von besseren Zeiten. Bis dahin konnte noch alles passieren. Vielleicht würden sie unter dem Eis in der Arktis noch Dinosaurier finden, wenn die Gletscher schmelzen; auferstehen würden sie und wie erstarrt davor Menschen stehend und staunend und immer noch sagend, die sind ja nicht echt. Er träumte wild, so dachte ich, morgens wurde er vom singenden Amerikaner
in der Dusche geweckt, saß nackt auf dem Bett und zog sich müde die Arbeitshandschuhe an. Auf dem Fahrrad stieg ihm die Kälte in die Augen, sie brannte wie Feuer direkt ins Gehirn und brachte Sachen hervor, an die er lange nicht gedacht hatte. Ein paar Flaschen Wasser sollte er vielleicht auch kaufen und die Menschen, die von Konsumlaune gesteuert seinen Weg kreuzten, ignorieren. Ob Lothar Wieler wohl auch nachts am Fenster stand und hoffte, die Zeit würde vergehn? Die letzten Jahre haben gezeigt wer übrig bleibt. Weißt du, es gibt so Leute, die habe ich nie kennenge- lernt aber glaube es wäre vielleicht gar nicht schlecht. Verbündete, Absichtslose, nichts bedarf einer Erklärung, sie wären so gern mit dir, wie du eben mit ihnen. Nun, wenn man nicht in die Welt passt, dann muss man sich eine eigene schaffen. Mit Leuten die genauso ticken. Die Gurken sind viel zu teuer und so die Dose Riesenschweinsbohnen. Während du am anderen Ende der Stadt
die Wohnung streichst und ich hier das Ge- schirr von gestern spüle, hören wir beide im Radio den Satz „Die Nato versetzt die Einsatzkräfte in hohe Einsatzbereitschaft.“ Katastrophen übertüncht man gern mit Kriegen. Da leg ich mir die Hand vor die Augen. Als sie nach unten gleitet blendet mich ein Bild, darauf Putin im Anzug mit Maschinengewehr. Die Sonne scheint heut unerhört viel.